Geschichte der CJA Schweiz

Rede von Ernst Ludwig Ehrlich – 1996
Rückblick des Zentralsekretärs

Frau Bundesrätin, Exzellenzen, meine Damen und Herren,

es besteht kein Zweifel darüber, daß die Christlich-Jüdische Arbeitsgemeinschaft im Jahre 1946 auf dem Hintergrund der Schoah gegründet worden ist. Das Verhältnis von Juden und Christen, zumal in der Schweiz, war in jenen Jahren des Krieges und der ersten Nachkriegszeit kein freundliches, sondern eher distanziert. Man lebte mehr oder weniger nebeneinander. Eine Integration der Juden in die Schweiz hatte nur vereinzelt stattgefunden. Darüber hinaus stand man sowohl auf katholischer als auch auf protestantischer Seite dem Judentum weitgehend fremd gegenüber. Von den jüdischen Wurzeln des Christentums hatte man wenig Ahnung, stattdessen herrschte ein offener oder versteckter Antijudaismus, teilweise auch eine Missionstheologie. So war das erste Ziel der 1946 gegründeten CJA in der Schweiz die Bekämpfung des Antisemitismus. Was damals beabsichtigt war, wurde etwa von den seither fast vergessenen Walzenhausener Richtlinien übernomrnen, die auf einer Tagung im Jahre 1945 niedergelegt werden waren. Wenn wir sie heute auf uns wirken lassen, so erscheinen sie uns zwar als eine Art von Binsenwahrheit, freilich sind diese aber auch heute noch nicht Allgemeingut sämtlicher Schweizerinnen und Schweizer geworden. Es erscheint mir daher nicht überflüssig, diesen Text hier zu zitieren:

„1. Der Antisemitismus ist in Wort und Schrift in seiner unsittlichen und unchristlichen Natur zu enthüllen und in seinen historischen und psychologischen Grundlagen und Inhalten klarzustellen.
2. Über Wesen und Geschichte des Judentums soll Aufklärung geschaffen und die große religiöse und soziale Bedeutung der in der Bibel enthaltenen Lehre, soweit ihre Bedeutung für die Menschenrechte, für die Demokratie und für den Völkerfrieden, soll dargestellt werden.
3. Die Ursprünge des Christentums sollen unter Berücksichtigung der politischen, sozialen, kulturellen, vor allem religiösen Verhältnisse zur Zeit seiner Entstehung dargestellt werden.
4. Christen und Juden sollen schon von Kindheit an zu gegenseitiger Achtung und gegenseitigem Verständnis erzogen werden.
5. Die Regierungen der Staaten sollen aufgefordert werden, jede Aufreizung zum Religions- und Rassenhaß zu bekämpfen und unter Strafe zu stellen.
6. Die Zusammenarbeit mit Organisationen und Institutionen, welche Bestrebungen gleicher oder ähnlicher Art verfolgen, ist beabsichtigt.

Diese Arbeiten sollen, je nach Notwendigkeit, teils in gesonderten christlichen und jüdischen Gruppen, teils in gemeinsamen christlich-jüdischen Zusammenkünften durchgeführt werden.”

Fragen wir heute, was von diesen Richtlinien, die zur Gründung der CJA beitragen, verwirklicht werden sind, so wird man inzwischen einiges als Gemeingut in unserem Lande ansehen können. Freilich fehlte damals noch die theologische Tiefe. Die innere Verbindung zwischen Judentum und Christentum ist noch nicht voll erkannt. Mit andern Worten: Es ist noch nicht deutlich genug geworden, daß es ein Christentum ohne ein wirkliches Wissen darüber nicht geben kann, daß das Evangelium „Urkunde der jüdischen Glaubensgeschichte ist“, um hier die Worte von Leo Baeck zu verwenden. Auch den vom Apostel Paulus postulierten ungekündigten Bund zwischen Gott und Israel hatte man hier noch nicht wahrgenommen.

Die theologischen Erkenntnisse der letzten 50 Jahre erforderten eine harte Arbeit, denn es fehlten dafür dort alle Voraussetzungen. Der Kampf einiger kirchlicher Männer und Frauen gegen den Bundesrat und seine Flüchtlingspolitik, darf nicht unterschätzt werden, aber er hatte noch keine theologische Arbeit zur Folge, sondern geschah aus biblischer Nächstenliebe. In diesem Zusammenhang sind vor allem der Flüchtlingspfarrer Paul Vogt und Gertrud Kurz zu nennen, die dann später auch aktiv in der CJA mitgearbeitet haben.

Den Thesen von Walzenhausen folgte dann am 28. April 1946 in Zürich die Gründungsversammlung des CJA, die damals mit vollem Titel hieß:

„Christlich-Jüdische Arbeitsgemeinschaft zur Bekämpfung des Antisemitismus in der Schweiz“. Prof. Dr. E. Bickel von der ETH Zürich war der erste Präsident. Dr. Hans Ornstein der Sekretär. Die Gründung stand noch voll unter dem Eindruck des Geschehens in den Konzentrationslagern, welches, so sagte damals Prof. Bickel als die -„schwärzeste Stunde der Menschheit ins Buch der Geschichte eingegangen ist… “. „ Wir wissen aber heute, daß wir alle, unsere Politiker und unsere Kirchen, versagt haben, als das Unheil sich anfangs nur gegen Juden und Kommunisten richtete, und dass nur wenige unter uns vor Gott und dem eigenen Gewissen bekennen dürften: „Ich habe von Anfang an alles getan, was in meiner Macht stand, um dem größten Verbrechen, mit dem je der Name Gottes und der Menschheit geschändet wurde, zu wehren.“ So ist deutlich, unter welchen Voraussetzungen die Arbeit in der CJA begann und von welchem Geist die Pioniere beseelt waren, die diese Aufgabe auf sich nahmen.

Sehr bald erkennt man, daß ohne eine grundlegende Neubesinnung die Arbeit nur einseitig und oberflächlich gestaltet worden wäre. So finden wir bereits in Nr. 2 des Mitteilungsblattes der CJA (1. Jahrgang Nr. 2, November 1949) einen Vortrag abgedruckt, den der damalige Vorsitzende der Basler-Gruppe und spätere Zentralpräsident Prof. Dr. Hendrik van Oyen hielt. Er sieht in dem christlich-jüdischen Verhältnis nicht eine psychologische Situation oder ein soziales Problem, sondern eine geistig religiöse Stellungnahme (Zitat): „Man wehrt sich gegen diesen Gott, der absolute Gerechtigkeit und absolute Liebe fordert. Der Mensch vor Gott das ist die geistige Botschaft des Judentums. Und die Botschaft Jesu ist: Dieser Gott ist Euer Gott, Völker der Welt. “

Freilich waren vorher schon die sogenannten „Seelisberger Thesen“ erschienen, die 1947 auf einer internationalen Konferenz von Christen und Juden erarbeitet wurden, wobei zweifellos das Denken des großen französischen Historikers Jules Isaak eine wesentliche Rolle spielte. Was später auf diesem Gebiete geleistet worden ist, geht weitgehend auf diese Thesen zurück, die bereits sehr viel mehr enthalten, als wir uns heute bewußt sein mögen. Hier wird klar herausgestellt: Jesus war ein Jude, ebenso wie die ersten Jünger und Märtyrer. Das Liebesgebot findet sich in der hebräischen Bibel und wird von Jesus bestätigt. Das nachbiblische Judentum darf nicht zu Gunsten des Neuen Testaments abgewertet werden. Es ist ferner notwendig, die Passionsgeschichte so darzustellen, daß daraus nicht ständig ein immer neuer Antisemitismus mit seinen Folgen erwächst. Diese Thesen waren eine wesentliche Grundlage für die folgende Arbeit der CJA.

Ferner ersehen wir aus den ersten Mitteilungsblättern, daß bereits in der 3. Nummer vom Staate Israel die Rede ist. Wenngleich das eigentlich politische Problem auch noch nicht angesprochen wird, so findet sich ein schöner Artikel des Kreisdekans Hermann Maass mit dem Titel: „Skizzen von einer Fahrt nach Israel“.

Ein wichtiges Ereignis für die CJA war eine Intervention bei Bundeskanzler Adenauer, anläßlich seines Ferienaufenthaltes auf dem Bürgenstock im August 1951. Ihm folgte Ende Juli 1952 eine schriftliche Demarche. Es ging um die Wiedergutmachungsfrage gegenüber dem Staat Israel und den Juden in der Diaspora. Der Zentralvorstand der CJA schreibt in diesem Brief: „Wir freuen uns herzlich, daß die dahinzielenden Anregungen, wie sie vor einem Jahr von unserer Seite und auch sonst vielfach an Sie gelangt sind, auf fruchtbaren Boden gefallen sind.“ Es wird weiter darin ausgeführt, dass die Bundesrepublik zu moralischer, und materieller Wiedergutmachung verpflichtet sei. Freilich hätte die moralische im ganzen genommen, noch kaum begonnen und wäre doch dringendst geboten.“ Die furchtbare Karikatur des jüdischen Menschentums wäre noch nicht berichtigt, ferner sei eine richtige Unterweisung der Jugend notwendig. Mit dieser Intervention hatte die CJA zum ersten Male eine wirksame Aktion außerhalb unserer Grenzen vorgenommen.

Auch nach innen fand eine Konsolidierung statt, so daß allmählich in zahlreichen Orten Gruppen entstanden. Heute verfügen wir über neun Regionalgruppen, in Aargau, Basel, Bern, Biel, Solothurn, St. Gallen, Zürich, Locarno sowie in der Romandie. Wie aus dieser Aufzählung ersichtlich ist, fehlen einige wichtige Ort, wo es uns aus jeweils andern »Gründen nicht gelang, dauerhaft Fuß zu fassen, was aber nicht bedeutet, wir würden in unserem Bemühen nachlassen. Nachdem sich die CJA konstituiert hatte, stellte sich die Frage einer Beziehung zu den offiziellen religiösen Vertretungen in der Schweiz. Dieses Problem steht in einem engen Zusammenhang mit der allgemeinen Situation in unserem Lande. Auch hier bedurfte es eines sehr langen Prozesses, ehe mit den verschiedenen Gremien ein weitgehend konstruktives Verhältnis hergestellt werden konnte. Das gilt für alle größeren religiösen Gemeinschaften in der Schweiz. Hier war eine sehr lange Arbeit nötig, um vor allem gegenseitiges Vertrauen zu gewinnen und Vorurteile zu beseitigen. Wenn wir auf diesen Weg zurückblicken, ist, abgesehen von wenigen Zwischenfällen, eine weite Strecke gemeinsamen Tuns zurückgelegt worden. Überblickt man das Mitteilungsblatt der CJA von Nr. 1, 1949 bis Nr. 8, 1952, so kommen faktisch die offiziellen Kirchen überhaupt noch nicht vor. Das aber änderte sich in der Folge, und heute ist die CIA eine auch dort überall anerkannte, wenn auch nicht immer bequeme Organisation, denn als Konformisten hätten wir keine Existenzberechtigung.

In den ersten Jahren galt es nicht nur, die verschiedenen Formen des Antisemitismus abzuwehren, sondern auch die eigene Dignität des Judentums zu betonen, und hier handelt es sich vor allem darum, die organisierte und nicht organisierte Judenmission in der Schweiz abzuwehren. Hier sind wir schließlich zu einem positiven Resultat gelangt. Judenmission gibt es heute nur noch bei wenigen, bedeutungslosen Freikirchen. Das Problem der Judenınission stellt sich nicht mehr. Dazu hat in entscheidender Weise auch die uns befreundete „Stiftung für Kirche und Judentum“ beigetragen, die sich aus der Schweizer Judenmission entwickelt hatte und heute einen wichtigen Beitrag zum Verständnis von Juden und Christen leistet. Dazu dient auch die gehaltvolle Zeitschrift „Judaica“. Der CJA gelang es immerhin 54 Nummern ihres Christlich-Jüdischen Forums herauszugeben. Wegen der immer höher werdenden Druckkosten mußte dieses wichtige Medium jedoch im Jahre 1982 eingestellt und durch ein Bulletin ersetzt werden, das zusammen mit dem Jahresbericht erscheint.

Natürlich konnte sich unsere Arbeit in der Schweiz nicht unabhängig von den Geschehnissen in der Welt entwickeln. Auf katholischer Seite kam die entscheidende Wende durch das Zweite Vatikanische Konzil, das im Jahre 1965 eine Erklärung veröffentlichte, die das Verhältnis zu den Juden auf eine neue Basis stellte. Ihr folgten dann im Laufe von je 10 Jahren (1975 und 1985) weitere Richtlinien zur Ergänzung und Anwendung der Konzilserklärung. Auch auf protestantischer Seite, sei es vom ökumenischen Rat der Kirchen in Genf sowie von vielen Landeskirchen, wurden grundlegende Dokumente veröffentlicht, die ein solides Fundament legten, den Christlich- Jüdischen Dialog zu fördern. Besonders der Weltrat der Kirchen hatte Schwierigkeiten, sich mit der realen Existenz des Staates Israel abzufinden. Gleiches galt übrigens für den Vatikan, der dann schließlich im Dezember l993 den Staat Israel de jure anerkannte. Diese Akte war notwendig, weil sich im Laufe der Jahre der Antisemitismus zu einem Antizionismus entwickelt hatte, wobei es sich allzuoft gar nicht um eine zu kritisierende Politik des Staates Israel handelte, sondern um eine neue, getarnte Art der Judenfeindschaft. Man meinte nicht selten in Wirklichkeit gar nicht eine problematische Politik, sondern den Staat Israel selbst sowie überhaupt die Juden im allgemeinen. Diese neue Spielart galt es zu entlarven und ihr entsprechend entgegenzutreten.

Um vor Ort die Situation zu studieren, unternahm der Zentralvorstand der CJA zwei Studienreisen nach Israel jeweils unter der Leitung der damaligen Präsidenten Pfr. Eduard Gerber und Prof. Rudolf Brändle. Es ging darum, Kontakte mit den vielen israelischen Gruppen zu suchen, die Verständnis für die Araber in Israel verbreiten wollen und mit ihnen intensiv arbeiten. Wir erhielten damals eine Liste von nicht weniger als 20 Organisationen, von denen wir 12 besuchen konnten. Auch legten wir jeweils Wert auf Kontakte mit den christlichen Patriarchen sowie Bischöfen. Wir erkannten, daß Vorurteile und billige Polemik auf keiner Seite sinnvoll sein können, sondern daß es konkreter Arbeit bedarf, die eine Bewußtseinsänderung zum Ziele hat.

Das leider allzufrüh verstorbene Zentralvorstandsmitglied, Frau Elisabeth Müller (Biel), hatte uns vor ihrem Tod einen Fonds zur Verfügung gestellt, mit der Maßgabe, arabischisraelische Annäherung zu fördern. Diese Aufgabe ist uns bis heute geblieben. Wir meinen, daß wir in der Schweiz nicht ein positives Verhältnis zwischen den einzelnen Bekenntnisgruppen schaffen können, während anderwärts zwischen Juden, Christen und Muslims Haß herrscht und dort Menschen nicht Frieden finden können, auf den sie Anspruch haben. Der Staat Israel ist daher für die CJA nicht irgendein Land wie die anderen, sondern auch der Ort, von dem die jüdische und die christliche Botschaft an unsere Welt einst ausgegangen ist. Daher haben wir nicht nur wiederholt Reisen in das Land Israel unternommen, sondern versuchen, wo es in unserer Möglichkeit liegt, den Frieden zu fördern. Dies ist freilich nicht möglich, wenn man sich durch einseitige Stellungnahmen als Gesprächspartner unglaubwürdig macht.

Kehren wir in die Schweiz zurück. Seit vielen Jahren finden zu Anfang des Jahres auf dem Leuenberg Studientagungen statt, die bei unseren Mitgliedern und Freunden großen Anklang finden, wobei wir uns bemühen, theologisch sowie sonst aktuelle Themen zu behandeln. Wir spüren, daß diese Tagungen nicht nur für die Teilnehmer ein echtes Bedürfnis darstellen, sondern auch die Freundschaftsbande zwischen Juden und Christen enger knüpfen.

Das gleiche gilt für die Paulus-Akademie Zürich, die ebenfalls einmal im Jahr gemeinsam mit unserer Zürcher Gruppe Tagungen durchgeführt, die zum Bestandteil beider Institutionen geworden sind. Überhaupt haben sich diese christlich-jüdischen Begegnungen in vielen Jahren in der Schweiz gefestigt. So etwa durch die Volkshochschulen in Basel, Bern und Zürich, ferner durch das jüdische Lehrhaus in Zürich. Schließlich ist es allmählich selbstverständlich geworden, daß viele Veranstaltungen der israelitischen Gemeinde Basel gemeinsam mit der CIA durchgeführt werden. Auf diese Weise haben Christen seit langem die Schwellenangst verloren, in die jüdische Gemeinde zu kommen.

Als im Jahre 1977 der Schweizerische Evangelische Kirchenbund Überlegungen zum Problem Kirche-Israel anstellte, war es unter anderem der damalige Präsident der CIA, Pfarrer Heinrich Oskar Kühner, der wesentlich zur Abfassung dieses Textes beitrug. Diese Erklärung war für jene nun fast 20 Jahre zurückliegende Zeit ein Dokument ernsten Nachdenkens, sehr guten Willens und daher überaus nützlich, wenn es wirklich intensiver von den evangelischen Gemeinden zur Kenntnis genommen wäre. In jedem Fall handelt es sich hier um einen Text, der weitgehend die Arbeit der CIA widerspiegelt, und daher voll und ganz in unsere Geschichte gehört. 15 Jahre später hat die Schweizerische Bischofskonferenz gemeinsam mit dem SIG ein wichtiges Dokument veröffentlicht, wobei auch hier katholische und jüdische Verfasser aus der CIA stammen. Der Text trägt den Titel: „Antisemitismus: Sünde gegen Gott und die Menschlichkeit“. Ein Kapitel darin hat den Titel: „Die Kirche auf dem Wege von der Schuld zur Versöhnung“. Im übrigen ist die Erklärung eine vehemente Ablehnung jeder Form des Antisemitismus. So heißt es etwa: „Diese Beispiele zeigen, daß die Judenfeindschaft nicht nur Juden schadet, sondern auch der Gesellschaft, von der sie ausgeht: Sie ist eine Verblendung, die die Sicht auf die Realität verstellt, und sich damit gegen die Judenfeinde selbst wendet; sie sind die Gefangenen der eigenen Vorstellungsbilder.“ Die Redaktion dieses Textes hatten der Vizepräsident der CIA; Prof. Clemens Thoma, sowie der Sprechende.

Überblicken wir die 50 Jahre unserer Existenz als CIA, so haben wir in jenen Jahrzehnten sehr viel erreicht, wozu sicher auf katholischer Seite die Erklärung „Nostra Aetate“ beigetragen hat, und bei den Protestanten eine Fülle von positiven Erklärungen europäischer und amerikanischer Landeskirchen, die alle das Ihrige getan haben, um die theologischen und menschlichen Begegnungen zwischen Juden und Christen zu fördern. Dennoch haben wir keinen Grund, unsere Arbeit als beendet zu erklären, wenn wir feststellen müßten, daß auch heute noch, wenn es darauf ankommt, katholische und protestantische Gremien eine gewisse Mühe haben, die Juden und das Judentum als gleichberechtigte Partner anzuerkennen, und die Kenntnis des Judentums in ihren Gemeinden zu verbreiten. Es ist zwar nicht mehr so wie in der Vergangenheit, daß die Kirchen sich auf ihre eigenen Interessen zurückziehen und mit dem Rücken zu den Juden stehen, um ein Wort aus der Würzburger Synode aus dem Jahre 1975 zu verwenden, aber die Kirchen müssen sich selbst ein Verständnis des Judentums mühsam erringen, um es den Gemeinden weiterzugeben. Das hat mit Antisemitismus sehr wenig zu tun, wohl aber noch mit einer gewissen Fremdheit einem Unvertrautsein mit dem heutigen Judentum, vielleicht auch mit einer Angst. Man kennt sich immer noch zu wenig. Nicht selten werden abstrakte theologische Vorstellungen angebracht, die nicht weiterhelfen und unnötig trennen, ohne dass wir etwa einem religiösen Synkretismus das Wort reden. Theologische Termini können manchmal zur bloßen Hülse werden und menschliche Beziehungen verstellen. Es fällt offensichtlich manchen immer noch schwer, das nachbiblische Judentum als eigenständige Größe neben die Kirchen anzuerkennen, und insbesondere als das Volk des von Gott nie gekündigten Bundes. Dabei kann die Kirche gar nicht über sich selbst sprechen, ohne das Judentum mitzubedenken, aus dem sie schließlich hervorgegangen ist. Zudem hätten die Kirchen die Chance, das erneuerte Verhältnis von Juden und Christen als Zeichen der Hoffnung inmitten einer unerlösten Welt zu präsentieren und als Herausforderung zu verstehen, um, wenn auch getrennt – gemeinsame Arbeit für das Kommen des Gottesreiches zu leisten.

So liegt noch sehr vieles vor uns, was zwar oft angesprochen, aber längst nicht gelöst wurde. Wer in der Christlich-Jüdischen Arbeitsgemeinschaft tätig ist, darf nicht nur einseitig seine eigene Position in den Vordergrund stellen, sondern muß auch stets die des andern mitbedenken, nicht etwa um ihn nicht zu verletzen, sondern auch um den Wahrheitsgehalt seiner Position wahrzunehmen. Ein Dialog kann daher nur entstehen, wenn wir das Proprium des andern ganz ernst nehmen, und in der Tiefe unserer eigenen Existenz versuchen, es zu verstehen. Ohne diesen ungemein ernsthaften Versuch, den andern wirklich zu begreifen, kann man keinen echten Dialog führen.

Auf diesem Gebiete gilt es in Zukunft, kontinuierlich weiterzuarbeiten. Wir lernten bisher, daß es schmerzlich ist, anderen wirklich zuzuhören, denn wir mußten uns selbst und die Welt mit den Augen anderer sehen. Wir fanden heraus – zu unserer Überraschung – daß die Überzeugungen und Traditionen, die uns selbstverständlich waren, zugleich in Frage gestellt wie bereichert wurden. So entdeckten wir die biblische Erfahrung neu, daß Identität wächst, wenn man sie aufs Spiel setzt.

Wir entdeckten, daß eine Begegnung mit dem „Andern“, in der er sich mit seinen eigenen Worten darstellen kann, ein Gefühl von Gemeinschaft erzeugt: eine Gemeinschaft, die die Spannungen aushält, die aus echten Unterschieden erwachsen, und die zugleich die Einheit erfahrbar macht, die aus dem stammt, was wir gemeinsam haben. Der Dialog hat uns zu einem Zeugnis unserer Identität herausgefordert – gegenüber unseren Partnern im Dialog, gegenüber den Gemeinschaften, aus denen wir kommen, und gegenüber jenen, denen wir erst noch begegnen werden.

Wir fanden uns vor in einer pluralistischen Gesellschaft in der einen, interdependenten Welt. Diese Situation zwingt uns, unsere Identität neu zu bestimmen, nicht, indem wir uns aus dieser Wirklichkeit zurückziehen, sondern indem wir uns ihr stellen. Die Motive und die oben beschriebenen Erfahrungen gelten für den Dialog mit Menschen aller Religionen und Ideologien. Aber die Beziehung zum jüdischen Volk ist die älteste, die engste und schmerzlichste, die Christen haben.

Wir beklagen heute bei Juden, Christen und Muslimen einen Fundamentalismus, der das Zusammenleben von Menschen gefährdet. Er schließt jeden wirklichen Dialog aus und beharrt auf einen Absolutheitsanspruch, der dem anderen keinen Raum läßt. Jeder Fundamentalismus ist vor allem aus der Angst geboren. Dabei wird oft übersehen, dass Religion den Menschen frei machen soll. Die Angst führt ihn in die Enge, in ein Ghetto, das ihn von anderen Menschen abschließt. Wir konnten jüngst ein solches Zeugnis beobachten, als der Präsident einer israelitischen Gemeinde nach der Christlich-Jüdischen Arbeitsgemeinschaft gefragt wurde. Er meinte, den Kampf gegen den Antisemitismus würde er akzeptieren, eine „Verbrüderung“ jedoch nicht. Was immer auch der Terminus „Verbrüderung“ bedeuten mag, hier zeigt sich eine traurige Enge. Was kann es eigentlich Schöneres geben, als mit dem anderen in eine brüderliche oder schwesterliche Beziehung zu treten, wobei selbstverständlich die Unterschiede im Geschichtsbewusstsein und im Eigenen der jeweiligen Religion bestehen bleibt? Unser Ziel müßte sein, gerade auf den anderen zuzugehen und diese Geschwisterlichkeit auf dem Boden des Gemeinsamen aufzubauen. Das freilich erfordert eine Offenheit und gerade die Freiheit, die uns die Religion bieten soll. Fundamentalismus hingegen klebt jeweils am Buchstaben und verschließt das Verstehen des Sinnes. Fundamentalisten pflegen zu vergessen, daß die Quellen, auf die sich unsere Religionen berufen, mehr als zwei Jahrtausende alt sind, und die Menschen von damals ein anderes Bewußtsein, eine andere Lebenssituation, andere historische und soziale Voraussetzungen und Bedingungen hatten. Wir in der CJA jedoch wollen den Dialog mit dem jeweils anderen und haben daher mit Fundamentalisten nichts zu tun. Dazu kommt, daß der Fundamentalismus lebensgefährlich wird, wenn er sich mit der Politik verbindet, was leider in unseren Tagen nicht selten der Fall ist.

Lassen Sie mich schließen mit dem Wort, mit dem kürzlich der israelische Staatspräsident Ezer Weiznıann am Bundestag in Bonn seine Rede beendete. Es kann in der einen oder andern Weise auch für Juden und Christen gelten, wenn er es wohl vor allem als jüdisches Zeugnis meinte: „Meine Damen und Herren, wir sind ein Volk der Erinnerung und des Gebets. Wir sind ein Volk der Worte und der Hoffnung. Wir haben keine Reiche geschaffen, keine Schlösser und Paläste gebaut. Nur Worte haben wir anein-andergefügt. Wir haben Schichten von Ideen aufeinandergelegt, Häuser der Erinnerungen errichtet und Türme der Sehnsucht geträumt – möge Friede schnell zu unserer Zeit gestiftet und bereitet werden.“ Daß dieser Frieden und dieses Verstehen zwischen den Menschen in unserem Lande bald in voller Fülle erreicht werde, ist unsere Hoffnung in dieser Stunde der Feier und der Erinnerung.